Fluß ohne Brücke

12. August

Wir kommen nicht recht in Gang an diesem Morgen, das Einpacken aller Zelte und Sachen zieht sich hin.
Plötzlich ist ein Hubschrauber zu hören. Schnell rennt jemand zum Landeplatz - aber wir haben Pech, er fliegt nicht in unsere Richtung. Eine weitere Maschine würde heute auch nicht kommen, erfahren wir.
Als wir unsere Rucksäcke endlich fertig gepackt haben und loslaufen, ist es bereits Mittag. Talabwärts kommen wir aber viel schneller voran als hochzu. Almut allerdings hat weiterhin ziemliche Probleme mit aufgescheuerten Stellen am Fuß und deshalb große Mühe, das Tempo zu halten.
Irgendwann kommen wir an unserer Zeltstelle vom Hinweg vorbei und als es gegen 18 Uhr ist und wir beschließen, unsere Zelte aufzubauen, sind wir bereits in der Nähe unseres Mittags-Rastplatzes vom zweiten Tag des Aufstiegs.

Verteilung der Essenrationen

Mit den Lebensmitteln müssen wir nun ernsthaft sparen. Die abendliche Suppe wird gerecht geteilt - jeder bekommt 8 Löffel in seine Tasse.

Zwei Studentinnen aus Leningrad stoßen abends noch zu uns und gemeinsam sitzen wir noch recht lange am Lagerfeuer und erzählen lustige Geschichten ...
Bis jetzt hatte das Wetter gehalten, aber nachts setzt leichter Nieselregen ein.


13. August

Der Regen hat aufgehört, aber auch heute kommen wir nicht vor 12 Uhr los.
Zur Mittagspause erreichen wir unseren ersten Übernachtungsplatz auf dem Weg von Tjungur zum Akkemsee. Wir rechnen herum und stellen fest, daß es bisher 8 Stunden Fußmarsch bergab bis hierher waren - in die andere Richtung haben wir ab hier noch zwei Tage gebraucht.
Im Gegensatz zu unserer Route hochzu wollen wir nun im Akkemtal bleiben, um so schnell wie möglich hinunter an die Mündung des Akkems in den Katun zu kommen. Nach unseren Karten gehen wir davon aus, daß es dort Dörfer und Straßen geben könnte, wo wir die Chance haben einzukaufen oder mit LKW oder Bus mitgenommen zu werden.

Das Mittagessen spielt sich wie am Vortag ab: die kochend heiße Tütensuppe wird löffelweise verteilt, außerdem gibt es den letzten Kanten Brot und die letzte Wurstbüchse.
Da der Hunger stets umso größer wird, je mehr sich die Vorräte dem Ende zuneigen, teilen wir auch noch die letzten Fruchtschnitten auf und jeder bekommt noch etwas Traubenzucker.
Wir hoffen, bis zum Abend unten am Katum im Dorf Akkem zu sein, welches in unserer Karte eingezeichnet ist, um dort Nahrungsmittel kaufen oder eintauschen zu können.
Rast im Akkemtal

Die Gespräche drehen sich immer mehr um Schnitzel groß wie Klodeckel und bei jeder Bemerkung über Pilze, die gelegentlich am Wegesrand zu finden sind, gehen die Gedanken zu Pilsen, die sich in einem Halbliterglas befinden ...

Nicht lange nach dem Aufbruch von der Mittagspause verschwindet die Sonne endgültig, Nieselregen setzt ein, der mit der Zeit immer stärker wird. Irgendwann holen wir die grünen Armee-Planen heraus, die wir über uns und die aufgesetzten Rucksäcke hängen können.
Mit der Entscheidung, im Akkemtal zu bleiben, umgehen wir den Kusujak-Paß, der uns hinzu soviel Schweiß gekostet hat. Allerdings ist dieser Weg nun schmaler, manchmal nur noch ein Trampelpfad. Die Regenplanen helfen gegen das Wasser von oben, aber durch das nasse Gras am Wegesrand sind Schuhe und Hosen bald völlig durchnäßt.

Von hinten wie Marsmenschen aussehend, wandeln wir talwärts. Der Weg streckt sich viel weiter in die Länge, als wir nach der Karte geschätzt haben. Zuletzt führt uns ein kleiner Seitenpfad hinunter zum Ufer des Katun.
Sockentrocknen am Feuer

Nach kurzer Zeit stehen wir alle an diesem Fluß, der nicht viel breiter als die Elbe erscheint, aber viel tiefer ist und so schnell strömt, daß darauf treibende Äste rasend schnell wieder aus unserem Blickfeld verschwinden.
Eine Ortschaft oder wenigstens einige Häuser gibt es hier nicht. Alles, was wir finden, ist ein verfallenes Holzgestell und außerdem ist da ein Seil aus Metall, das, abgestützt von einer Holzkonstruktion auf beiden Seiten, in einem durchhängenden Bogen beide Ufer miteinander verbindet.
Entsetzt stellen wir uns die Varianten vor, die uns bleiben: Irgendwie am Stahlseil ans andere Ufer zu kommen ist illusorisch, erst recht mit unseren schweren Rucksäcken (wie so etwas doch funktionieren kann, werde ich erst zwei Jahre später in Nepal kennenlernen).
Die Alternative ist ebenso erschreckend: im Akkemtal zurück, doch wieder über den Kusujak-Paß ins Kutscherla-Tal und dort hinunter nach Tjungur. Wahrscheinlich würden wir diese Strecke nicht an einem Tag schaffen.

Völlig im Unklaren, wie es weitergehen soll, bauen wir unsere Zelte an der Stelle auf, wo eine Feuerstelle inmitten von Grasflächen davon kündet, daß hier häufiger jemand ein Schlafplatz gefunden hat.
Auch einheimische Katamaranfahrer sind inzwischen eingetroffen und bereiten sich vor, ebenfalls hier zu übernachten.

Jeweils 2 Mann Besatzung haben die aus Baumstämmen selbstgebauten Katamarane. Die Schwimmkörper bilden luftgefüllte "Plastetüten". Solche Folie aus Polyethylen, wie sie hier direkt beim chemischen Namen genannt wird, ist zu dieser Zeit in der Sowjetunion durchaus noch nicht so verbreitet im täglichen Leben. Diese Folie wird mit dickem Stoff umnäht und mit Seilen an der Baumstamm-Konstruktion befestigt. Richtige Sitze gibt es auf diesem Gefährt nicht, die Besatzung kniet auf einem Holzbrett und jeder hat auf seiner Seite mit einem Paddel für die Steuerung zu sorgen.
Das Katamaranfahren auf großen Flüssen hat sich hier zum eigenständigen Sport entwickelt. Übersichtskarten zeigen die Flüsse mit einer eigens dafür geschaffenen Schwierigkeitseinstufung. Auch die Hinreise zum Startpunkt am Oberlauf der Flüsse, zum Beispiel des Katun, Tschuliman oder Baschkaus, und der Bau dieser schwimmenden Gefährte gehört mit zum Abenteuer dazu.

Auch die Katamaranfahrer wissen nichts von einem Dorf Akkem an dieser Stelle. Sie laden uns zum Tee an das inzwischen von ihnen entfachte Feuer ein - und bieten an, uns am nächsten Tag überzusetzen !
Inzwischen hat der Regen aufgehört und wir können Socken und Hosen am Lagerfeuer zum Trocknen aufhängen. Das Abend-Menü besteht heute aus 2 Portionen Kartoffelpüree und etwas Reis mit Bierwurst, von seiner Ration wird aber keiner richtig satt. Eine Tafel Block-Schokolade kann noch geteilt werden: zunächst jeder ein halbes Stück, dann wird das fünfte Stück nochmal sorgfältig mit dem Messer in 8 Teile geteilt ...
Lange sitzen wir an diesem Abend am Feuer und trinken Tee. Einer der Russen spielt Gitarre. Wir wechseln uns ab mit der Wache am extra eingerichteten Socken-Trocknungs-Feuer. Nach Mitternacht sind tatsächlich alle Sachen wieder trocken und wir können uns in die Schlafsäcke verkriechen.


14. August

Zum Frühstück gibt es Hirse in Bohnensuppe und Wasserpudding mit Hirse. Dazu wird der letzte Rest Kaffee gekocht, der sich noch in Jörgs Dose befindet.

Willkommen an Bord - die Überfahrt beginnt

Etwa um 11 Uhr wird dann das Vorhaben, uns mit den Katamaranen überzusetzen, angegangen - uns ist das Ganze durchaus nicht geheuer, aber eine Wahl haben wir eigentlich nicht.
Zwei Katamarane werden flottgemacht. Gebaut sind sie für zwei Mann, die außerdem zur Vorsicht immer dicke Schwimmwesten tragen. Nun also sollen immer zwei von uns mit Gepäck zusätzlich mit drauf. Anstelle der Schwimmweste haben wir einen schweren Rucksack, nun ja ...
Wir malen uns lieber nicht aus, wie das im Ernstfall ausgehen könnte und knobeln, wer zuerst dran ist.

Ankunft am anderen Ufer

Es geht alles gut, die Steuermänner versuchen mit ihren Paddeln mit aller Kraft, die Höhe zu halten - trotzdem landet jede Überfahrt einige Hundert Meter flußabwärts am anderen Ufer. So müssen die Sportfreunde viermal mühevoll ihren Katamaran wieder flußaufwärts zur ursprünglichen Anlegestelle ziehen, bevor wir alle am anderen Ufer und sie selbst wieder bereit zur Weiterfahrt sind. Mehr als ein paar kleine Präsente wie zum Beispiel Kugelschreiber haben wir nicht zu bieten. Aber alle wissen, daß gegenseitige Hilfe beim Unterwegs-Sein in diesem riesigen Land überlebenswichtig sein kann und daher fast eine Selbstverständlichkeit ist.

Nun sind wir also auf der anderen Seite, hier gibt es zumindest einen unbefestigten Fahrweg am Flußufer entlang, der zu unserem Ausgangspunkt Tjungur führen müsste.
In unseren Karten war völlig uneinheitlich angegeben und deshalb vorher nicht klar, ob es eine durchgehende Straße diesseits des Katun zwischen Tjungur und Inja am Tschuja-Trakt gibt. Aber dies hier ist auch nach russischen Maßstäben eher ein Feldweg und so sinkt unsere Hoffnung, per Anhalter auf einem LKW schneller in das immerhin noch etwa 20 km entfernte Tjungur zurückzukehren. Gerade für Almuts offene Wunden an den Füßen wäre dies aber eine Erlösung.

Aufsitzen auf den LKW

Wir laufen los und nach einer halben Stunde kommt tatsächlich ein Laster, der auf unser Winken hin auch sofort anhält.

Das Gerüttel, das wir hinten auf der Ladefläche ertragen müssen, nehmen wir gern in Kauf. Jeder hält sich so gut es geht an irgendeiner Verstrebung fest.
Der Versuch, die Landschaft während der Fahrt zu fotografieren, scheitert. Alle Bilder sind trotz guter Belichtungsverhältnisse völlig verwackelt.
Aber auch die Kreuzschmerzen, die wir bereits nach kurzer Fahrzeit alle haben, werden überdeckt von der Vorstellung, in Kürze in einen Lebensmittel-Laden einrücken zu können. Und so rumpeln wir, oft nur in Schrittgeschwindigkeit, unserem nächsten Ziel Tjungur entgegen.





Karte
Sowjetunion
Karte
Westsibirien
Karte
Altai