Tjungur - Ende der Straße

2. August

Ich schlafe unruhig. Dünnpfiff treibt mich mehrmals aus dem Zelt. Auf der Wiese grasen Kühe und kommen unseren Zelten manchmal sehr nahe. Ich stelle mir vor, so ein Vieh stolpert über eine Zeltstrippe und kracht auf das gute "Fichtelberg" ...
Irgendwann versinke ich dann doch noch in tiefen Schlaf.


Am Katun

Morgens macht unser LKW erst noch einen Abstecher zu einer anderen Touristenstation - wir haben also Zeit, in Ruhe Kaffee und Puddingsuppe zu kochen. Auch das Packen der Rucksäcke nahm wie immer Sorgfalt und Zeit in Anspruch, wollte man wirklich alles hineinbekommen und nicht irgendeinen Beutel mit Resten in der Hand behalten ...
Ich ärgere mich darüber, meine in Gorno-Altaisk gekaufte Übersichtskarte nicht mitgenommen zu haben, so grübeln wir nun über einer ungenauen Karte in riesengroßem Maßstab, wo wir uns eigentlich befinden.
Da wir direkt am Katun zelten, müssen wir noch vor dem Abzweig nach Tscherga sein - in Anbetracht der noch vor uns liegenen Strecke geht es eigentlich viel zu langsam voran.

Die Sonne steigt höher und wir warten, daß der KAMAS zurückkommt und die Fahrt endlich weitergeht.
Auf der Wiese tauchen Pferde auf mit Glocken um den Hals, Kühe sind sowieso schon da, und auch Schweine erscheinen noch.
Kurz nach Mittag holt uns auch endlich der LKW ab.

Weiter geht es in Richtung Ust-Koksa. Eigentlich sieht auf der Karte die Strecke am Katun entlang über Inja nach Tjungur viel kürzer aus - erst später erfahren wir, daß es zwischen Inja und Tjungur keine wirkliche Straße gibt.
Umgehung der Brücke
Aber auch die Straße über Ust-Kan hat es in sich. Glattgefahrener Feldweg über viele Kilometer ...
Eine Holzbrücke zwischendurch macht selbst unserem Fahrer Kopfzerbrechen. Einige Baumstämme längs über den Fluß und dann dicke Stämme quer einfach draufgelegt. Die Konstruktion wird geprüft, dann müssen wir alle aussteigen und sollen zu Fuß über diese Brücke laufen. Den KAMAS steuert der Fahrer lieber direkt durch den Fluß.

In Ust-Kan

Irgendwann erreichen wir Ust-Kan, und machen erstmal Pause.
Ein riesiger staubiger Platz, ringsum einige Häuser. Wir müssen alle mal; und es gibt auch eine Toilette ! Es ist ein kleines Holzhäuschen am Rand des zentralen Platzes, dort wo ein Abhang zum Tal beginnt.
Eine nähere Beschreibung kann ich mir nicht ersparen, denn es hat uns alle irgendwie beeindruckt (empfindliche Gemüter mögen den folgenden Abschnitt überspringen):
Benutzt wird das Häuschen offensichtlich von allen Bewohnern des Ortes. Es ist einfach eine umbaute Stelle; einen Abfluß gibt es nicht. Da es am Hang steht, rutscht das Meiste irgendwann denselben hinunter (wohlbedachterweise gehen die Bretter der Seitenwände nicht bis zum Erdboden runter).
Was nicht rutscht, bleibt liegen.
Mit dem, was liegenbleibt, wird folgendermaßen umgegangen: Man legt Ziegelsteine rein (2 Stück, für jeden Fuß einen); gerade so, daß von den Steinen oben noch was rausguckt. So ist wieder etwas Zeit gewonnen, bevor man neue Ziegel nachlegen muß ...

Aber es gibt auch einen Bäcker im Ort, wo wir erstmal zuschlagen !
Pause in der Abendsonne

Später heißt es wieder aufsitzen und weiter geht es in Richtung der Berge ...
Kurz vor Ust-Koksa suchen wir uns erneut einen Übernachtungsplatz. Etwas erhöht neben dem Fluß Koksa finden wir eine etwas buckelige Wiese. Völlig allein in der zunehmend stiller werdenden Nacht kochen wir uns noch eine Bohnensuppe.
Auf der Wiese liegen einige größere Knochen herum, und mit zunehmender Dunkelheit kann man sich immer lebhafter vorstellen, wie aggressive Raubtiere zum Angriff übergehen ...
Auch wenn später darüber gespottet wird: Diese Nacht lag der Eispickel in Griffweite neben mir im Zelt ...

3. August

Am nächsten Morgen geht es zeitig raus. Ohne vorher zu frühstücken bauen wir die Zelte ab, steigen in unser Gefährt ein und los geht es zunächst einmal Richtung Ust-Koksa. Es ist noch ziemlich neblig.

Unfall

Plötzlich hält der LKW an, es geht nicht weiter. Wir hören aus unserer abgedichteten Kabine nur, daß draußen einige Leute diskutieren.
Irgendwann öffen wir die luftdichte und strahlenschützende Tür des LKW-Koffers. Die Ursache für den Stop wird schnell klar:
Quer zur Straße wurde eine neue Rohrleitung verlegt. Der Kanal dafür von etwa 2x2 Meter Querschnitt war aufgebuddelt und das neue Beton-Rohr lag schon drin.
Das Hinweisschild "Umleitung" 20 Meter davor war umgefallen und nicht sichtbar.
Nur kurze Zeit vor uns waren offensichtlich zwei Transporter im Nebel einfach geradeaus gefahren ... Einer hatte soviel Schwung, daß er erst mit der Hinterachse in den Graben krachte, der andere fiel seitlich hinein. Zwei Autos waren Schrott, nur weil die Baustelle nicht abgesichert war - typisch russisch, war unsere Meinung dazu.

Pause in Ust-Koksa

In Ust-Koksa war dann große Pause angesagt. Wir suchen die örtliche Kantine ("Stolowaja") zwecks Frühstück auf, sogar eine "Kulinarnaja", in der es leckere Backwaren gibt, ist vorhanden !
Irgendwie gibt es Probleme mit der Weiterfahrt; die Zeit vergeht und wir müssen warten. Inzwischen entdecken wir auch den Schaschlyk- und den Eis-Stand.

Unser Fahrer machte derweil eine Reihe von Erledigungen; zwei Geologen, die mit uns zusammen die letzten zwei Tage mitgenommen wurden, verabschiedeten sich und stiegen in einen leichteren LKW, um von unserem Führer noch zu ihrer Station in ein Seitental begleitet zu werden.
Wir sonnen uns und baden inzwischen am steinigen Strand in der Nähe der Mündung der Koksa in den Katun.

Ankunft in Tjungur

Erst um 17:30 Uhr geht es endlich weiter. Nach etwa 30 km machen wir erneut einen Zwischenstop, weil der Fahrer eine Bekannte treffen will. Sogar ein Fähre über den Katun gibt es hier. Wir stehen derweil am Ufer und können erstmals in der Ferne schneebedeckte Berge sehen. Auch die Gelegenheit zum Baden im Fluß lassen wir uns nicht entgehen.
Nach einer halben Stunde geht es wieder weiter. In der Abendsonne erreichen wir endlich unser Ziel: Tjungur, 824m hoch gelegen.
Hier endet die Straße und es steht uns nun ein mehrtägiger Fußmarsch bevor.

Alles wird aus dem LKW ausgeladen; für den Fahrer und den Chef kramen wir ein Päckchen Kaffee aus dem Rucksack.

Chefarzt-Visite

Über eine große Hängebrücke überqueren wir den Katun. Auf der anderen Seite gibt es eine große Wiese, die wie geschaffen scheint als Ausgangsbasis für eine Expedition. Hier verabschieden wir später unsere beiden Betreuer und bauen unsere Zelte auf.
Dann ist Visite bei unserem Fußpatienten dran, bei dieser Gelegenheit werden gleich mal alle mitgebrachten Spritzen und Medikamente aus den Plastesäcken ausgeschüttet und sortiert.

Später kommen wir am Lagerfeuer mit einem Herren ins Gespräch, der von sich behauptet, dieses ganze Stück Land gekauft zu haben, weil das Dorf kein Interesse hatte; er hätte jedenfalls vor, hier eine Touristenstation einzurichten und für jede Nacht einen Rubel zu nehmen.
Wir sind trotz Perestroika skeptisch, auch als es dann um Zerfall der Sowjetunion und Unabhängigkeit geht ... Im Sommer 1989 war uns trotz des Gefühls bevorstehenden politischen Wandels in Osteuropa noch nicht klar, wie schnell sich nur wenige Monate später alles verändern würde.

Am kommenden Tag aber wollten wir erstmal mit schweren Rucksäcken ein Tal hinaufmarschieren, und in Vorahnung der körperlichen Strapazen legen wir uns beizeiten zur Ruhe.




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